Die Nahosttragödie und der Platz der Christen

Auf ein Wort

Schulpfarrerin Silvia Reinecke. Foto: Privat

Schulpfarrerin Silvia Reinecke. Foto: Privat

Am kommenden Sonntag ist Volkstrauertag. Wir gedenken der Millionen Kriegstoten der beiden Weltkriege, der gefallenen Soldaten und auch der heutigen Gewaltopfer weltweit. Vergesst nicht! Nie wieder Krieg und Völkermord predigen die Soldatengräber. Auch das Nie wieder Judenmord muss in Deutschland weiter wachgehalten werden, denn das Erinnern und Gedenken ist das Fundament unserer Zivilisation! Es mahnt zur Wachsamkeit in der Gegenwart für alle Zukunft. Unser Grundgesetz ist mit „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ überschrieben.

Dieses Bekenntnis zur besonderen Würde jedes menschlichen Lebens geht auf die 2500 Jahre alte, jüdische Priesterschrift zurück, die wir im ersten Kapitel der Bibel finden. „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn und er schuf sie als Mann und Frau“, heißt es dort. Gemeint ist: Als Ebenbild Gottes trägt jeder Mensch eine von Gott gegebene Würde in sich und soll im Auftrag Gottes die Schöpfung bewahren. Dieses in den gemeinsamen heiligen Schriften von Juden und Christen gesetzte Bekenntnis prägt das christliche Menschenbild. Durch den Juden Jesus, der unser Christus ist, sind wir Christen mit hineingenommen in den alten Bund, beten sonntags aus den gemeinsamen Psalmen und stellen uns zum Ende des Gottesdienstes mit unter den ursprünglich jüdischen Segen. Das Christentum ist aus dem Judentum erwachsen.

Auch das Gebot der Nächstenliebe, der Achtung jedes Menschen, stammt aus dem Ersten Testament (3. Mose 19,18). Heute ist die Achtung der Menschenwürde in einklagbaren Grund- und Menschenrechten niedergeschrieben. Umso entsetzlicher ist die Bestreitung des Lebensrechtes jüdischer Menschen und des Existenzrechtes des Staates Israel durch die terroristische Hamas. Am 7. Oktober hat sie von Angesicht zu Angesicht Familien und feiernde Menschen in Israel gefoltert, abgeschlachtet, bei lebendigem Leib verbrannt oder entführt. Die nun eingetretenen, entsetzlichen Folgen der Selbstverteidigung Israels liegen allein in ihrer Verantwortung! Auch das unsägliche Leiden und Sterben und die humanitäre Katastrophe unter den eigenen Landsleuten! Versteckt unter den verletzlichsten Menschen und Orten in Gaza provozieren die Terroristen nun noch mehr Opfer im eigenen Volk, um den weltweiten Antisemitismus weiter zu schüren.

Wie kann nun das erbärmliche Dilemma zwischen der Rettung der Geiseln und dem Verschonen der Zivilbevölkerung noch besser gelöst werden, als es versucht wird?! Und wo ist nun der Platz der Christen? An der Seite der Juden und der Palästinenser, in der Klage, der Solidarität und im Gebet, dass die Nacht des Hasses endlich der Menschlichkeit weiche. Wann weicht die Nacht dem Tag? Wenn Menschen im Angesicht jedes Menschen den Bruder und die Schwester sehen.

Silvia Reinecke, Schulpfarrerin des Evangelischen Kirchenkreises Paderborn

Der Beitrag ist erschienen in der Neuen Westfälischen Paderborn am Freitag, 17. November 2023.